Das Neue an der Inklusiven Geschichtsdidaktik

Inhaltsverzeichnis:
Wechsel des Menschenbilds
Einführung des Leibes in die geschichtsdidaktische TheoriebildungErweiterung des Reflexionsbegriffs: Leibliche ReflexivitätErweiterung des Fähigkeitenbegriffs: Jeder Mensch ist ein fähiger MenschErweiterung des Denk-Begriffs: Es gibt nicht nur ein bewusstes Denken (cogito), sondern auch ein schweigendes Denken (schweigendes cogito)Erweiterung des Geschichtsverständnisses: Geschichte im LeibGeschichte im Leib: Sedimentierte Geschichte als präsente GeschichtePlace Identity: Ich im bekannten RaumElaborierte Geschichte als abständige GeschichteInklusive Geschichtsdidaktik: Gleichheit bei den Fähigkeiten, Pluralität bei den Tätigkeiten

 

Wechsel des Menschenbilds

Aktuell arbeiten wir innerhalb der Geschichtsdidaktik (im Schulsystem grundsätzlich) mit dem Cartesianischen Dualismus. Das bedeutet, dass dem Geist ein höherer Stellenwert zuerkannt wird, als dem Körper. Da der Körper der Naturseite zugeschrieben wird, der Geist jedoch der Kulturseite, scheint der Geist (das Denken, die Reflexivität) höherwertig zu sein als der Körper, der als eher schwach gedacht wird („Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach.“). Konsequenterweise schulen wir den Geist, um den Körper zu disziplinieren.

Im Rahmen meiner Inklusiven Geschichtsdidaktik wechsle ich zu einem phänomenologischen Menschenbild. Das bedeutet, dass der Mensch als ein ambivalentes Wesen sichtbar wird: Er ist sowohl ganz Natur wie auch ganz Kultur und zwar immer beides gleichzeitig:

  • Natur
    • race (z.B. Hautfarbe, kulturelle Färbung)
    • gender (geschlechtliche Selbstwahrnehmung),
    • dis/ability (Fähigkeiten und Einschränkungen auf der körperlichen Ebene) und
  • Kultur
    • race
      • Konstruktionen von kultureller Andersheit mit der Intention der Differenzierung im Spannungsfeld von `innen und außen` – jeweils bezogen auf die Gewährung bzw. Nicht-Gewährung von Einflussmöglichkeiten und Handlungsräumen
    • class
      • Konstruktionen von ökonomisch-sozialen Differenzierungen im Spannungsfeld von `oben und unten`  – jeweils bezogen auf die Gewährung bzw. Nicht-Gewährung von Einflussmöglichkeiten und Handlungsräumen
    • gender
      • Konstruktionen von geschlechtlicher `Normalität bzw. Nicht-Normalität` im Spannungsfeld Reproduktion bzw. Nicht/Anders-Reproduktion  – jeweils bezogen auf die Gewährung bzw. Nicht-Gewährung von Einflussmöglichkeiten und Handlungsräumen
      • dis/ability
        • Konstruktionen von Fähigkeiten im Spannungsfeld von `Nützlichkeit bzw. Bedürftigkeit` – jeweils bezogen auf die Gewährung bzw. Nicht-Gewährung von Einflussmöglichkeiten und Handlungsräumen

erscheinen gemeinsam als das ganz Besondere des zur Welt sein des Menschen. In der Phänomenologie wird in diesem Zusammenhang vom Leib gesprochen.

Einführung des Leibes in die geschichtsdidaktische Theoriebildung:

Ähnlich der Cartesianischen Frage, wie Körper und Geist miteinander verbunden sind, stellt sich in Bezug auf die menschliche Ambivalenz die Frage, wie sich die Natur- und Kulturseite des Menschen miteinander verbunden zeigen. Unter einer phänomenologischen Perspektive kann man sagen, dass beide Seiten im Leib miteinander verschränkt werden. Maurice Merleau-Ponty erklärt dies mit Hilfe des Kippbildes: Je nachdem, wie man das Bild kippt, sieht man entweder das eine oder das andere Bild. Beide sind aber stets gleichzeitig da und gleichzeitig wahr. Wir sehen allerdings immer nur ein Bild (und halten dies oft für das Ganze). Nach Merleau-Ponty wäre der Leib die Stelle, an der das eine Bild in das andere kippt. Im Leib werden die beiden Seiten des Mensch-Seins auf eine ganz spezifische Weise miteinander verbunden. An der Stelle, wo Natur in Kultur oder Kultur in Natur kippt, zeigt sich das je individuelle So-Sein des Menschen (race, class, gender, dis/ability,…), das seine Hinwendung zur Welt rahmt und ihn unverwechselbar macht.  Im Leib verschränken sich Natur und Kultur zur jeweiligen Individualität, Weltwahrnehmung und Weltzuwendung. Im Leib liegen unsere Handlungsfähigkeiten. Das So-Sein unseres Leibes rahmt (nicht: determiniert) unsere Möglichkeiten der Weltbegegnungen.

Erweiterung des Reflexivitätsbegriffs: Leibliche Reflexivität

Wir sind es gewöhnt, Reflexivität im Bewusstsein anzusiedeln. Wer reflektiert, denkt über etwas nach. An dieser Stelle zeigt sich wieder der cartesianische Bezugspunkt unseres Menschenbildes: Ich denke, also bin ich. Die Konsequenzen eines solchen Denkens sind weit reichend. Das Denken, eine kognitive Struktur, wird als absolut für das Mensch-Sein definiert. Konsequenterweise schulen wir den Geist, um das Denken immer reflexiver zu gestalten. Ein Zuwachs an Reflexivität wird als Zuwachs an Rationalität verstanden, dem dann idealerweise vernünftiges Handeln folgt. Über das reflektierte Denken sollen die Handlungen des Körpers diszipliniert werden. Dass dies offensichtlich nicht wirklich funktioniert zeigt sich z.B. daran, dass wir immer wieder Dinge wider besseres Wissen tun. Unter besserem Wissen wird an dieser Stelle rationales, wissenschaftlich erzeugtes Wissen verstanden. Im Rahmen eines solchen Denkens wird zwischen einer Ordnung des Lebens, die Rationalitätsdefizite aufzuweisen scheint und einer Ordnung der Vernunft, die diese Defizite ausgleichen kann, unterschieden.

Unter einer phänomenologischen Perspektive wird dem Leib selbst eine ganz eigene Reflexivität zuerkannt. Dem Leib selbst wohnt bereits ein Wissen inne, das wir als Wahrheit (Kultur) des Körpers (Natur) bezeichnen können. Wahrheit des Körpers meint, dass mit unserer Leiblichkeit als Jemand eine besondere Vernunft verbunden ist.  Im Leben selbst sind die Ordnung des Lebens und die Ordnung der Vernunft nicht analytisch voneinander getrennt, sondern miteinander verwoben.  Die Vernunft des Leibes als Wahrheit des Körpers gehört in das Leben als sinnlichem Erleben selbst. Es ist die Vernunft des Leibes, die uns in jedem Augenblick handlungsfähig sein lässt. Die Vernunft des Leibes zeigt sich als leibliche Reflexivität und diese bringt sich als ein ich kann zum Ausdruck: Ich kann handeln. Phänomenologisch gesehen müsste man also sagen: Ich kann handeln, also bin ich…

Es ist das Erleben von Selbstwirksamkeit, das dem Menschen ein Erleben von Lebendigkeit, von Sein, ermöglicht.

In die Vernunft des Leibes sind alle Erfahrungen des Raumes, in dem ich aufgewachsen bin (über die Geschichten, in die ich verstrickt und die Szenarien, in die ich verwickelt bin (Wilhelm Schapp)) sowie meine eigenen Erfahrungen als konkreter Mensch mit seiner je eigenen ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit, seiner je eigenen Geschlechtlichkeit, seiner je eigenen Zugehörigkeit zu sozialen Milieus und Klassen sowie seinen je eigenen Fähigkeiten eingelagert. Damit handelt es sich bei der leiblichen Reflexivität um ein überaus komplexes Geschehen. Leibliche Reflexivität bedeutet, ich wende mich der Welt stets als ganzer Mensch mit allen Sinnen zu – und nicht nur als denkender Mensch. Die Vernunft des Leibes umfasst dabei stets mehr, als reine Kognition überhaupt ermöglichen würde. In meinen Handlungen bin ich stets komplexer, als wenn ich diese Handlungen versprachlichen sollte. Oft reichen Worte für das, was ich eigentlich zum Ausdruck bringen möchte, nicht aus. Dann kommen Gesten als Kommunikationen ins Spiel: Die Umarmung ist Mitgefühl. In der kommunikativen Geste bringt sich die leibliche Reflexivität ebenfalls zum Ausdruck.

Reflexive Kommunikationen sind also nicht nur als sprachlich rationale Kommunikationen möglich, sondern auch als leibliche Kommunikationen und wir alle wenden diese unzählige Male am Tag an, ohne ihre Bedeutsamkeit voll zu erfassen. Allzu oft wird die Geste sogar als gefühlsduselig abgetan: Sei nicht so emotional! Unter einer phänomenologischen Perspektive wird die Geste leiblich rational und sie ermöglicht Kommunikationen, die über Worte selbst nur begrenzt möglich wären. Damit können auch Menschen in die Kommunikationen einbezogen werden, die über keine analoge Sprache verfügen. Jeder Mensch verfügt über eine leibliche Reflexivität, die ihn handlungsfähig sein lässt.

Erweiterung des Fähigkeitenbegriffs: Jeder Mensch ist ein fähiger Mensch

Unter einer phänomenlogischen Perspektive gerät der Mensch aufgrund seiner leiblichen Reflexivität als ein immer fähiges Wesen in den Blick: Jeder Mensch kann handeln (Merleau-Ponty) – auch wenn die Reichweiten dieses Könnens unterschiedlich sind (und durchaus auch unterschiedlich sinnvoll im sozialen Zusammenleben). Für sich gesehen ist aber jeder Mensch handlungsfähig in seiner Welt. Dieses Können ist durch die Geschichten und Szenarien, in die wir verstrickt und verwickelt sind, immer auch historisch gerahmt. Mit dem Wechsel des Menschenbildes verbunden ist damit auch ein Wechsel der Perspektive auf den Menschen. Weil er immer schon handlungsfähig ist, geht es nicht darum, ihm grundsätzlich etwas (Neues) beizubringen, sondern seine bereits vorhandenen Handlungsfähigkeiten im Rahmen eines gelingenden Miteinanders so zu erweitern, dass zum Einen die Reichweite seiner Selbstwirksamkeit erweitert wird (Zukunft erwarten) und diese Selbstwirksamkeit zum Anderen sozial anschlussfähig gestaltet werden kann (In welcher Gesellschaft wollen wir leben?). Bildungsprozesse sollten daher nicht mehr von den Wissenschaften ausgehend initiiert werden, im Rahmen derer der Mensch als permanent interventionsbedürftig interpretiert wird. Bildungsprozesse sollten vom immer schon fähigen Menschen selbst ausgehen und ihm helfen, sich selbst in der Welt sehen und reflektieren zu lernen, um seine Handlungsmöglichkeiten zu erweitern.

Erweiterung des Denk-Begriffs: Es gibt nicht nur ein bewusstes Denken (cogito), sondern auch ein schweigendes Denken (schweigendes cogito)

Das besondere an der leiblichen Reflexivität ist, dass  das erkennende und damit handlungsleitende Wissen im so genannten schweigenden cogito (Merleau-Ponty) liegt. Wir verhalten uns überwiegend passend in unserer bekannten Welt, ohne zu wissen, warum wir wissen, was zu tun ist: Wir können es einfach und stellen uns die Frage erst gar nicht. Das schweigende cogito kann als die Grundstruktur unseres Leibes markiert werden. Unser situatives Können ist nicht als ein Automatismus zu verstehen. Es handelt sich bei unserem Können weder um einen Schematismus noch um einen Mechanismus. Da sich zwei Situationen, in denen wir uns bewähren müssen, nie identisch wiederholen, zeigt unsere Anpassungsfähigkeit an die verschiedenen Bedingungen, dass hier durchaus Reflexivität und situativ angepasstes Handeln stattfindet. Wir passen unsere Wahrnehmungen unserem Erleben permanent an und erweitern dadurch unsere leibliche Reflexivität, unser Können.

Mir selbst hilft die Metapher des Stoffes, der immer eine bestimmte Textur aufweist, um diese schwierige leibliche Reflexivität, bzw. das schweigende cogito kommunikationsfähig zu machen. In die Textur meines Leibes sind vielfältige Elemente eingewoben, die meine Hinwendung zur Welt rahmen: Meine ethnische und kulturelle Zugehörigkeit, mein Geschlecht, mein Alter, mein sozialer Status, meine Fähigkeiten und Einschränkungen, mit denen ich umgehen muss, mein Verhältnis zu einer bestimmten Religion oder Religionen überhaupt, etc. All diese Komponenten sind in einer bestimmten Weise zu dem Stoff meines Lebens verwoben, die mich als Jemand ausmacht. Bei aller Psychologie, die sicherlich einen gewichtigen Anteil an der Spezifik meiner leiblichen Reflexivität aufweist, ist dennoch auch profund Historisches in dieser enthalten. Die historischen Apriori (Foucault), die in die Macht-Diskurse, in denen ich mich als handlungsfähiger Mensch bewege, eingelagert sind, machen einen Unterschied: Es macht z.B. einen Unterschied, ob ich als gehandicapter Mensch in Deutschland lebe, in dem Menschen mit Behinderungen über zwei Jahrzehnte hinweg als lebensunwert diskutiert und schließlich systematisch ermordet wurden. Es macht einen Unterschied, ob ich als Frau in einem Land lebe, in dem mein Körper als männliche Verfügungsmasse angesehen werden kann. Es macht einen Unterschied, ob ich als schwuler Mann in einem Land lebe, in dem Homosexualität als `unnatürlich` markiert wird. Es macht einen Unterschied, ob ich als alleinverdienender Mann zwei Arbeitsstellen brauche, um meine Familie ernähren zu können. Es macht einen Unterschied, ob der Klang meines Namens mir den Zugang zu Ausbildungs- und Arbeitsplätzen verwehrt. All diese definierten Unterschiede haben eine historische Dimension – und sie kommen in einer Person und in einem Raum nicht so eindimensional vor, wie gerade beschrieben.  All diese Erfahrungen sind aber als historische Erfahrungen in die leiblichen Texturen der konkreten Menschen eingelagert und sie rahmen die Zukunftserwartungen, die wir als Menschen hegen können oder dürfen.

Im schweigenden cogito sind also nicht nur unser Handlungswissen und damit unsere Handlungskompetenzen, sondern auch deren historisch definierte Grenzen eingelagert, ohne dass ich sagen könnte, wie diese historischen Rahmungen konkret aussehen und woher sie herkommen. Worum es beim historischen Lernen also gehen sollte ist, die historischen Begrenzungen unserer Handlungen aus dem schweigenden cogito ins cogito zu heben, sie bewusst zu machen, damit wir darüber sprechen und nachdenken können. Dies geschieht im Rahmen von historischen Bildungsprozessen. Wer über die historischen Rahmungen seiner Handlungen weiß, kann sich schließlich auch an Kommunikationen darüber beteiligen, was bleiben darf und was sich ändern soll. Historisch denken lernen bedeutet in diesem Fall, Zugang zur historischen Dimension im eigenen schweigenden cogito zu finden und sich mit diesem selbstreflexiv und im Dialog mit anderen auseinander zu setzen. Die didaktische Frage, die in diesem Falle relevant wird lautet: Wie gehört Geschichte in mein Handeln?

Dabei gilt grundsätzlich, das historisch gerahmte Können der Schülerinnen und Schüler jenseits von geistig-kommunikativer und historisch-kultureller Andersheit als Fähigkeiten zu erkennen und anzuerkennen, um an diese anschließend eine gemeinsame Erweiterung des Zukunftshorizonts zu entwickeln: In welcher Welt wollen wir gemeinsam leben und was können wir aus unseren jeweiligen leiblich-historischen Kontexten konstruktiv dazu beitragen?

Erweiterung des Geschichtsverständnisses: Geschichte im Leib

Geschichtstheoretisch verstehen wir Geschichte heute einerseits als vergangenes Geschehen und andererseits als eine empirisch und normativ triftige Narration über dieses Geschehen: Erst, wenn vergangene Gegenwarten unter einem besonderen Erkenntnisinteresse versprachlicht werden,  entsteht Geschichte. Geschichte ist erzählendes Vergegenwärtigen von Vergangenheit unter einer gegenwärtigen Perspektive mit dem Ziel, auf die Zukunft hin zu orientieren. Geschichte wird dabei prinzipiell als der eigenen Lebenszeit vorgängig gedacht (früher). Wir trennen die Zeitschichten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft analytisch voneinander: In der Auseinandersetzung mit vergangenen Gegenwarten müssen wir deren Andersartigkeit (Alterität der Vergangenheit) berücksichtigen, um den Wandel beschreiben zu können, der unserer Gegenwart zugrunde liegt. Und in der Fortsetzung des Gedankens gilt dann auch, dass die Zukunft in einem gewissen Rahmen anders sein kann und darf, als die Gegenwart. Die Komplexität dieses Vorhabens Geschichte macht deutlich, dass es sich hier prinzipiell um ein Expertengeschäft handelt: Es sind die Historiker, die solche Geschichten erzählen, denn sie sind diejenigen, die sich in den komplexen Strukturen der Vergangenheiten auskennen und diese intersubjektiv relevant erzählen können. In historischen Lernprozessen vollziehen Schülerinnen und Schüler dieses Wissen nach und werden, so die Idee, über die Historizität ihrer Gegenwart aufgeklärt. Gleichzeitig gilt, dass jede Geschichte stets auch eine konstruierte Geschichte ist, die immer auch anders erzählt werden könnte. Auch diesen Konstruktcharakter von Geschichte sollen Heranwachsende durchschauen lernen, damit sie sich gegenüber historisch begründeten politischen Zumutungen kritisch verhalten können.

Geschichte ist nach einem solchen Verständnis ein Bewusstseinsinhalt. Wer kein Wissen über Geschichte hat, wer nicht historisch erzählen und darüber reflektieren kann, gilt nicht nur als ungebildet, sondern auch als potenziell in der Gefahr stehend, die Fehler der Vergangenheit wiederholen zu müssen. Historisch ungebildete Menschen stellen im Rahmen solcher Vorstellungen durchaus eine Gefahr für die Zukunft dar, was es sinnvoll erscheinen lässt, eine historische Allgemeinbildung zu vermitteln. Die Problematik dahinter ist jedoch, dass dieses Anliegen ein dominanzkulturelles Unterfangen ist, im Rahmen dessen die Pluralität historischer Erfahrungen hierarchisiert werden. Hinter dem Verständnis einer historischen Allgemeinbildung verbirgt sich ein Universalisierungsanspruch, der kritisch gesehen werden kann und der auch, z.B. innerhalb der Postkolonialen Studien, kritisch gesehen wird.

Wir Menschen sind jedoch, so der Philosoph Wilhelm Schapp, immer schon in Geschichten verstrickt und in Szenarien verwickelt. Das bedeutet, dass in dem Raum, in dem wir groß werden, Geschichten in einer bestimmten Weise präsent sind: Als Erzählungen, die Ein- und Ausschlüsse vornehmen und damit Handlungsräume für unterschiedliche Menschen unterschiedlich definieren. Alles Verhalten, das mir im Rahmen meines Aufwachsens im konkreten Raum entgegengebracht wurde, alle Anforderungen, die an mich als Heranwachsende im konkreten Raum gestellt wurden, hatten stets auch eine historische Dimension, die in den Diskursen, in die ich eingebunden wurde, dominant mit zirkulierte. Auf diese Weise bin ich, ohne dass ich jemals  mit einer konkreten Geschichtsnarration hätte aktiv konfrontiert werden müssen, in die europäisch-deutsche Geschichte handelnd verstrickt worden. Es ist das Leben selbst, das uns ein schweigendes Bewusstsein von Geschichte vermittelt. Dieses schweigende Bewusstsein von Geschichte ist nicht unreflektiert – im Gegenteil! Es ermöglicht uns ein überwiegend störungsfreies Verhalten und Handeln im bekannten Raum. Gleichzeitig hat diese narrative Seite auch eine ästhetische und performative Dimension: Ich bin in historisch gerahmte Szenarien verwickelt, sei es in eine Umwelt, in der Geschichte visuell anwesend ist (Geschichtskultur) und meine Sehgewohntheiten und damit das, was für mich normal ist, prägt; sei es in Form von Verhaltensweisen, wie ich mich in welchen Situationen darzustellen und zu agieren habe, damit alles seine Richtigkeit hat.

Alleine deshalb, weil ich in einem bestimmten Raum aufgewachsen bin, weil ich mit allen Sinnen auf diesen Raum hin ausgerichtet bin, haben sich die Geschichte des Raumes und meine eigene Lebensgeschichte auf eine ganz spezielle Weise miteinander verbunden, die mich als Menschen mit Geschichte ausmachen. Diese Geschichte ist mir in den Leib eingeschrieben – sie ist Teil der Textur meiner leiblichen Reflexivität und sie ist Teil meiner Handlungskompetenz. Ich muss überhaupt kein historisches Wissen als spezifisches Wissen haben und bin dennoch zutiefst historisch gerahmt und handlungsfähig, einfach nur deshalb, weil ich in die Sinnstrukturen einer bestimmten Geschichts-Kultur hinein gewachsen bin. Diese Sinnstrukturen liegen in meinem schweigenden cogito als Teil meines Handlungswissens.

Geschichte kommt also nicht nur im Form von Narrationen zum Ausdruck. Geschichte kommt zuerst einmal in Form von Handlungen zum Ausdruck – und das ist bei jedem Menschen so. In jeder unserer Handlungen ist Geschichte enthalten.

Geschichte im Leib: Sedimentierte Geschichte als präsente Geschichte

Innerhalb meines schweigenden cogito sind die Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deckungsgleich. In meinem gegenwärtigen Handeln kommt Geschichte deshalb als sedimentierte Geschichte vor. Das bedeutet, dass mir die historischen Erfahrungsgehalte meines Lebensraums im gegenwärtigen Erleben abstandslos gegenwärtig sind. Chronologien spielen hier keine Rolle. Vielmehr ermöglicht mir dieses abstandslose historische Erfahrungswissen `objektive` Erkenntnisse: Ich weiß genau, was zu tun ist und ich kann tun, was getan werden muss. Sedimentierte Geschichte im Leib ist präsente (nicht präsentistische) Geschichte. Sedimentierte Geschichte im Leib als präsente Geschichte ist objektiv bedeutsam für mich: Obwohl nicht hier und nicht jetzt substanziell anwesend , stellt sie mir einen ganzen historisch-kulturellen Erfahrungshorizont als unperfekte Bandbreite zur Verfügung, der mich handlungsfähig macht. Immer wieder kann ich mich historisch erfahrungsgesättigt auf die Herausforderungen meiner Umwelt einstellen. Ich bin nicht auf die Erfahrungen reduziert, die mir mein eigenes Erleben innerhalb meiner bisherigen Lebensspanne zur Verfügung stellt. Mir steht gleichzeitig das gesamte Kulturwissen zur Verfügung – nicht als Detailwissen, aber als Handlungswissen. Sedimentierte Geschichte ist daher stets individuell lebensweltlich bedeutsame Geschichte im Kontext einer orientierten (als sinnhaft erlebten) Zeit.

Place Identity: Ich im bekannten Raum

In Geschichten verstrickt und in Szenarien verwickelt zu sein bedeutet, dass zwischen mir und dem Raum, in dem ich aufwachse, eine Beziehung hergestellt wird: Meine Handlungen sind passend, die Stimmungen identifizierbar und die Anschauungen vertraut. Dieser bekannte Raum wird von uns als ein orientierter Raum erlebt – wir nennen ihn oft auch Heimat. Hier kann sich der Mensch kompetent bewegen. Seine Sinne erleben eine Welt, die als kulturell kohärent wahrgenommen wird. Im orientierten Raum leben zu können ermöglicht dem Menschen eine place identity (Waldenfels). Sein intentionales Handeln ist stimmig auf die Geschichten und Szenarien seines gelebten Raumes hin abgestimmt. Die place identity kann als ein grundlegender Aspekt des aktuellen wie auch habituellen Leibes angesehen werden.

Die Place Identity ist damit gleichzeitig aber auch äußerst fragil. Jede Änderung in Bezug auf Geschichten und Szenarien holen den Menschen geradezu sprichwörtlich aus seiner orientierten Zeit und seinem orientierten Raum heraus. Jeder Umzug, jede Migration,  jede Flucht bedeuten Unsicherheit in Bezug auf den neuen Ort und die Regeln, die dort gelten. Weil das in den Leib eingelagerte raumkonkrete Handlungswissen fundamentaler Bestandteil des habituellen Leibes ist, muss der neue Raum vom alten her erwohnt werden. Das bedeutet, dass der aktuelle Leib zwar weiß, dass er in einem neuen Kontext lebt, in dem andere Geschichten und Szenarien relevant sind. Trotz dieses Wissens verhält der Mensch sich aber erst einmal so, als sei er noch am alten Ort, einfach deshalb, weil er nicht anders kann. Der neue Ort muss mit seinen jeweiligen Geschichten und Szenarien neu erlebt und erwohnt werden und dabei spielt der Leib eine unhintergehbare Rolle.

Maurice Merleau-Ponty hat diese Diskrepanz von aktuellem und habituellem Leib über das Phänomen des Phantomarms erklärt. Obwohl der Mensch weiß, dass sein Arm aktuell nicht mehr da ist, verhält er sich doch so, als sei er noch anwesend, wenn er z.B. einen Abstand zur Wand einhält, der eigentlich nicht nötig wäre. Der Arm ist in seinem habituellen Leib noch da. Analog dazu können wir in Bezug auf Flucht und Migration, die immer mit Verlust- und Fremdheitserfahrungen verbunden sind, von einer Phantomheimat sprechen: Obwohl die Menschen wissen, dass sie jetzt hier sind, verhalten sie sich so, als ob sie noch dort wären. Sie können nicht anders, denn sonst könnten sich sich gar nicht verhalten, wären sie nicht handlungsfähig. Mit dem Verlust der place identity, die stets auch einen Verlust an kultureller Kohärenz bedeutet,  wäre dann gleichzeitig auch noch ein Verlust an Selbstwirksamkeit verbunden. Das aber versuchen Menschen unbedingt zu vermeiden.

Gleichzeitig ändert sich mit dem Zuzug von Menschen mit einer anderen place identity auch das Erleben im Einwanderungsland. Es kommen Menschen mit historischem Erfahrungswissen, das den eigenen orientierten Raum und die eigene orientierte Zeit irritieren. Zuwanderung bedeutet auch Irritation der place identity der Aufnahmebevölkerung. Wenn es jetzt nicht gelingt, die Menschen miteinander ein einen Dialog zu bringen, der die gegenseitigen Fremdheitserfahrungen und Zukunftserwartungen thematisiert (Dialoge über Geschichten führen), entstehen Abgrenzungsbedürfnisse, die auf der Unveränderbarkeit der jeweiligen place identities beharren. Das Insistieren auf einer Leitkultur wie auch die Rückanbindung an die verlassenen Heimaten und deren kulturelle Kontexte sind dann Konsequenzen, die ein Zusammenleben und auch Zusammenwachsen der veränderten Gesellschaft verhindern und zu ganz eigenen unerwünschten Wirkungen führen (Populismus; Rechtsextremismus; Fundamentalismus).

Worum es immer wieder neu gehen muss ist, mit jeder gesellschaftlichen Veränderung die Geschichten und Szenarien der Menschen, die jetzt zusammen leben, so zu verändern, dass ein friedliches und auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Zusammenleben möglich wird. Das bedeutet, dass wir eine veränderte Einstellung zu dem entwickeln müssen, was wir Geschichte nennen. Sollen die Nationalstaaten als Organisationsformen in einer durch Wanderungsbewegungen gekennzeichneten Gegenwart erhalten bleiben, müssten ihre Selbsterzählungen in einer Weise dynamisiert werden, dass sie ihren derzeit ethnischen Charakter zugunsten einer auf den Demos (Ebene des Staates) bezogenen Vorstellung von Geschichte verändern.

Das bedeutet, dass die place identity als Empfindung kultureller Kohärenz als wandelbar (an)-erkannt wird. Zuwanderer müssen sich tatsächlich eine neue place identity am neuen Ort erwohnen, Einheimische ihre place identity verändern – im Dialog. Hier werden Gespräche darüber notwendig, was von dem jeweiligen historisch-kulturellen Erfahrungswissen hilfreich sein kann für die Entwicklung eines gemeinsamen zukunftsfähigen Gemeinwesens. Letztlich geht es darum – und dies wäre zutiefst historisch – gemeinsam zu entscheiden, was jeweils bleiben darf und was sich ändern soll. Dann aber muss auch auf der Ebene der Symbole und Rituale (Ebene der Nation) neu verhandelt werden, damit auch die Zuwanderer emotional und nicht nur formal an das neue Staatswesen gebunden werden können. Dazu müssen die Geschichten und Szenarien den neuen Situationen angepasst werden. Die alten Nationalstaatsgeschichten sind hier schon längst an ihre Grenzen gekommen.

Elaborierte Geschichte als abständige Geschichte

Um sich der sedimentierten Geschichte im schweigenden cogito annähern zu können, bedarf es der elaborierten Geschichte. Als elaborierte Geschichte bezeichne ich das historiographische Fachwissen, das über die Geschichtswissenschaften zur Verfügung gestellt wird. Da der Raum, in dem wir aufwachsen und unsere place identity ausbilden, immer ein Raum mit Geschichte ist, kann plausibel davon ausgegangen werden, dass es diese raumbezogene Geschichte ist, die das Handeln der Menschen in diesem Raum rahmt. Im Zusammenhang mit der sedimentierten Geschichte als präsenter Geschichte war wichtig geworden, dass präsente Geschichte eine abstandslos gegenwärtige Geschichte ist (nicht hier, nicht jetzt), die uns Objektives in der Zeit erkennen lässt, das uns handlungsfähig  macht. Wir merken zwar an den Folgen unseres Handeln, dass dieses situativ durchaus passend war, können aber nicht sagen, warum das so ist und woher wir wissen, was wie zu tun war. Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Handlungswissen stets auch historisch gesättigt ist, können wir danach fragen, wie Geschichte in unsere Handlungen gehört.

Erst dann macht es Sinn, die Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft analytisch voneinander zu trennen, damit wir Subjektives in `der Geschichte` erkennen können. Dafür wird die Komplexität der sedimentierten Geschichte reduziert, indem ein Ereignis (oder mehrere) aus dem Erlebensfluss heraus genommen und genauer untersucht werden. Jetzt spielt die Chronologie eine Rolle, damit wir Bewegung in die Ereignisse bringen können, die mit uns zu tun haben, damit wir sie erzählen, erklären und strukturieren können, immer mit dem Ziel, besser zu verstehen, wie diese Ereignisse in meine/unsere Handlungen gehören.

Als Beispiel führe ich im Folgenden Auszüge aus einem Vortrag an, den ich am 8. 11. 2017 im Georg-Eckert-Institut gehalten habe. Eine vollständige Publikation des Sachverhalts findet sich in:

Völkel, Bärbel (2016): Darf einer sich gegen eine Tradition von 1000 Jahren stellen? Martin Luther im multikulturellen Geschichtsunterricht. In: Breuer, Thomas; Dieterich, Veit Jacobus (Hrsg.): Luther unterrichten. Fächerverbindende Perspektiven, S. 64-77, Stuttgart: Calwer Verlag. https://www.calwer.com/luther-unterrichten.313099.94.htm

Titel des Vortrags: Darf man das überhaupt – Luther enthistorisieren und entkulturalisieren?

In seinem 2008 erschienen Band „Historisch denken lernen“, zieht Bodo von Borries nach mehr als 40 Jahren geschichtsdidaktischer Arbeit und Forschung eine eigentlich verstörende Bilanz: Das mit dem historischen Lernen klappt nicht so, wie gedacht und wir wissen nicht, warum das so ist. Wir wissen nicht, warum was wie gelernt werden soll, von den Bedingungen wissen wir auch nichts und wir wissen ebenfalls nicht, wie aus historischer Reflexivität Handlungswissen entstehen soll. (Bodo von Borries (2008): Historisch denken lernen, S. 17ff.) Niederschmetternder könnte ein Urteil am Ende einer Berufsbiographie nicht ausfallen.

Dabei scheint man sich innerhalb der Geschichtsdidaktik sehr sicher, worum es im Geschichtsunterricht gehen soll: Es geht um die Förderung der narrativen Kompetenz, die Schülerinnen und Schüler bei der Orientierung in ihrer Lebenswelt unterstützen soll. Jörn Rüsen hat jüngst seine bekannte Matrix der Geschichtswissenschaft in eine analoge Matrix der Geschichtsdidaktik übertragen. ( https://public-history-weekly.degruyter.com/4-2016-6/a-historymemory-matrix-for-history-education/) Angesichts der scheinbar evidenten Unhintergehbarkeit der Bindung der Geschichtsdidaktik an die Geschichtswissenschaft erscheint dies plausibel: Schließlich sollen Heranwachsende historische Kompetenzen erwerben. Nichts weniger als die Absicherung der Zukunft aus historischer Erkenntnis heraus ist Sinn und Zweck der Auseinandersetzung mit Geschichte. Der Modus, in dem das geschehen soll, ist der des Erinnerns und historischen Erzählens – daher auch der zentrale Stellenwert der narrativen Orientierungskompetenz.

Von historischen Narrationen kann man nach Rüsen nur dann sprechen, wenn zwei Zeitebenen Sinn bildend miteinander verknüpft werden. Es geht darum, einen historischen Sachverhalt kohärent unter Berücksichtigung von Kontinuität und Wandel erklärend und Zukunft weisend mit unserer Gegenwart zu verbinden. Schauen wir uns eine mögliche Erzählung, die Luther mit unserer Gegenwart verbindet, genauer an: Wohl am 2. Juli 1505 machte der junge Luther eine existenzielle Erfahrung: Er geriet in ein als lebensbedrohlich wahrgenommenes Gewitter und versprach den Eintritt ins Kloster, sollte er das Naturereignis überleben. Er überlebte und hielt sein Versprechen umgehend: Luther wurde Mönch im Erfurter Augustinerkloster. Sein Entsetzen angesichts des nahe gefühlten Todes brachte ihn dazu, sich intensiv mit seiner ganz persönlichen Rechtfertigung vor dem Thron des allmächtigen Gottes auseinander zu setzen. Ganz im Sinne seiner humanistischen Gefährten fing er an, die Bibel zu studieren und dieses Studium eröffnete ihm eine völlig neue Perspektive auf das Verhältnis Mensch und Gott: Einzig und allein die Heilige Schrift ermöglicht den Zugang zum Glauben und zur Gnade Gottes, die geschenkt und nicht verdient wird. In einem einzigen Wort kam der folgenreiche Traditionsbruch zum Ausdruck: solaallein im Sinne von einzig und allein. Luther begann seine neue Theologie zu predigen, die Medienrevolution des Buchdrucks machte seine Texte innerhalb kürzester Zeit breit bekannt, die Bibel wurde in die damalige Alltagssprache übersetzt und damit wurde der Mönch zum gefährlichen Gegner der damaligen Weltordnung: Seine Fundamentalkritik an der Papstkirche destabilisierte die Einheit von Reich und Glauben. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Anfang 1521 wurde Luther exkommuniziert. Auf dem Reichstag zu Worms im Herbst 1521 erhielt er dennoch die Möglichkeit zum Widerruf, den er verweigerte, weil er sich mittlerweile nur noch seinem Gewissen und seinem Gott gegenüber verpflichtet sah. Die Folgen kennen wir. Noch während der Lebenszeit Luthers gab es die ersten Toten in den beginnenden konfessionellen Auseinandersetzungen. 1555 gelang mit dem Augsburger Reichs- und Religionsfrieden eine vertragsrechtliche Lösung des Konflikts: Die Religionsfrage wurde vom Landesrecht getrennt, fortan konnten die Landesherren die Konfession auf ihrem Territorium bestimmen, die Untertanen jedoch erhielten ein Emigrationsrecht in Richtung der von ihnen bevorzugten Konfession. Die konfessionellen Auseinandersetzungen eskalierten dennoch und führten zum 30jährigen Krieg, der 1648 mit dem Westfälischen Frieden, wiederum einem Vertragswerk, beendet werden konnte: Die Konfessionen waren fortan einander gleich gestellt. 1848 erhob man dann die Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle Deutschen in einen Verfassungsrang, der über die Weimarer Verfassung bis ins heutige Grundgesetz als Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle Menschen übernommen wurde.

Die uns so plausibel erscheinende Narration lässt deutlich historistische Züge erkennen: Wir beschreiben einen historischen Prozess der Durchsetzung von Vernunft und Humanismus in einer die Gegenwart orientierenden und Zukunft betreffenden historischen Narration. Diese Narration kann als fundierende Geschichte des europäischen und auch deutschen Selbstverständnisses verstanden werden: Von hierher erklären sich u.a. die immer wieder bemühten europäischen Werte. Nach Jan Assmann produziert narrativierte Geschichte jedoch Mythen, eben fundierende Geschichte. (Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politischer Identität in
frühen Hochkulturen, München 2007/6, S. 52. ) Eine solchermaßen narrativierte Geschichte erzeugt sowohl eurozentrisches wie auch ethnozentrisches Denken.

In unserer Lebenswelt kommt die Geschichte Luthers jedoch ganz anders vor: Sie ist allgegenwärtig, wenn man sie zu sehen vermag: Ästhetisch in Form von geschichtskulturellen Zeugnissen wie z.B. Büsten, Bildern, Bücher etc,  kognitiv in Form von z.B. Texten, Liedern und durchaus noch kontroversen Geschichts-, Welt- und Glaubenseinsichten, sowie emotional in Form uns unhintergehbar erscheinender Werte. Die Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in der Welt, die uns umgibt, koinzident, d.h. deckungsgleich. Geschichte gehört als Bild, als Text und als Diskurs in das Umfeld, in dem wir groß werden. Sie orientiert unseren Raum und damit unser Erleben.

Und ohne, dass dies groß thematisiert werden müsste, rahmt diese präsente Geschichte unser Denken und Handeln. Zwischen dem Raum, in dem ich aufwachse und lebe und mir entsteht eine Beziehung: Ich bin im Raum mit seinen Geschichten und Szenarien situiert. Der Raum hat Bedeutung für mich, er ist mein orientierter Raum. Nichts anderes ist mit dem Begriff der Heimat gemeint. Gleichzeitig ist der Raum ein Raum mit Geschichte. Dem orientierten Raum entspricht eine orientierte Zeit und beide prägen mein inneres Zeitbewusstsein. Orientierter Raum ist durch kulturelle Kohärenz gekennzeichnet: Geschichten und Szenarien fallen hier stimmig ineinander und weil ich in die Geschichten und Szenarien meines orientierten Raumes verwickelt bin, rahmt `die Geschichte` des Raumes in meinem inneren Zeitbewusstsein mein gesamtes Handeln. Sollen, Können und Wollen fallen hier stimmig zu einer place identity zusammen, die nicht mit einer historischen Identität zu verwechseln ist. Place Identity wird dann und dort erlebt, wo Denken und Tun kohärent ineinander fallen, wo ich und der Raum eine Einheit bilden im Sinne eines Ich kann. Dieses ich kann markiert eine Reflexivität der Handlung, die sich aus einer Vernunft meines Leibes speist. Warum aber kann ich kulturell kohärent handeln? Ich kann das, weil die gesamte Geschichte meines gelebten Raumes in der Textur meines inneren Zeitbewusstseins als sedimentierte präsente Geschichte enthalten ist. Geschichte kommt im inneren Zeitbewusstsein ausschließlich als eine Textur ohne Differenzierungsmerkmale vor. In meinem inneren Zeitbewusstsein spielen Chronologien keine Rolle. Geschichte ist hier eine im Fluss des Lebens präsente Geschichte (nicht hier, nicht jetzt). Und gerade deshalb wird es möglich, für mich Objektives in der Zeit zu erkennen: Ich weiß, was zu tun ist, was ich davon zu halten habe, ohne begründen zu können, woher ich das weiß. Der Sitz dieses nicht erklärbaren Handlungswissens ist im schweigenden cogito, wie Maurice Merlau-Ponty es nennt. Es ist die sedimentierte Geschichte in meinem schweigenden cogito, die mir ein viables Driften in der Zeit ermöglicht, was bedeutet: Ich kann handeln.

Wenn Bodo von Borries also anmerkt, dass wir gar nicht wissen, wie weit der Weg von der Geschichtseinsicht zur Verhaltensänderung ist, dann können wir jetzt sagen: Unser Handeln ist immer schon durch Geschichtseinsichten gerahmt, wir können nur nicht sagen, wie genau. Gleichzeitig können wir noch mehr sagen: Wir können jetzt sagen, dass Geschichte gelernt werden sollte, um der sedimentierten Geschichte im schweigenden cogito eines jeden Menschen näher zu kommen. Der Geschichtsunterricht ist der Ort, an dem wir uns mit der sedimentierten Geschichte, die unser Handeln rahmt, selbst aufklärend auseinander setzen. Selbstaufklärung meint, sedimentierte Geschichte aus dem schweigenden cogito dem cogito zugänglich zu machen, damit wir darüber reden können. Wenn unser Handeln durch Geschichte gerahmt ist, ist die Frage, wie gehört Geschichte in dein Denken, in dein Bewusstsein, falsch gestellt. Wir müssen vielmehr fragen:

Wie gehört Geschichte in mein Handeln und zwar in mein Handeln in einer heterogenen und pluralen Welt?

Letztlich geht es also darum, dass der Mensch lernt, mit eigener Stimme sprechen zu lernen, wenn er danach fragt: Gehört und wenn ja, wie gehört Martin Luther in mein Handeln?  Hier wird nun elaborierte Geschichte, Historiographie, relevant. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Elaborierte Geschichte ist ebenfalls nicht abständig zur Gegenwart, sondern in dieser präsent. Über elaborierte Geschichte wird präsente Geschichte so historisiert, dass wir darüber reden können. Wir reduzieren die Komplexität der sedimentierten Geschichte, indem wir das Sediment untersuchen: Ereignisschichten in der Textur meines inneren Zeitbewusstseins werden analytisch, nicht substanziell, voneinander getrennt, um sie als vergangenes Geschehen mit Bedeutung für den Raum und mich kommunizierbar zu machen. Geschichte wird jetzt zum Objekt: Sie wird in eine historische Zeit und einen historischen Raum eingebunden. Wir wechseln jetzt jedoch den Referenzrahmen: Nicht die Lebenswelt, sondern die Welt der Wissenschaft, in der sozusagen ideale Bedingungen hergestellt werden, um bestimmte Dinge besser sehen zu können, ist nun unser Bezugspunkt. Wenn wir Geschichte zum Objekt machen, können wir Subjektives in vergangenen Ereignissen erkennen: Deshalb ist mir das so wichtig! Deshalb handele ich so! Im Geschichtsunterricht geht es darum, über elaborierte Geschichte Schüler*innen zu befähigen, mit eigener Stimme an den Dialogen über Geschichten teilnehmen zu können. Da die Menschen, die miteinander reden, unterschiedliche Sedimentstrukturen haben, müssen diese zur Dialogvorbereitung thematisiert werden. Ich skizziere verschiedene thematische Schwerpunktsetzungen, die Luther, bzw. das Reformationszeitalter im Blick haben.

1521 geht es in Worms um die Wahrheit: Karl V. vertritt die Position, dass wahr ist, was sich seit Jahrhunderten bewährt hat, was von Generationen gelehrter Menschen für richtig erachtet wurde und was von Generationen von Menschen als wahr erfahren wurde. Ein Einzelner mit einer anderen Erkenntnis kann sich daher nur irren. Luther hingegen ist sich ebenfalls sicher: Wahr ist, dass allein der Glaube den Menschen vor Gott rechtfertigen kann (sola fide). Wahr ist, dass der Mensch allein durch die Gnade Gottes gerechtfertigt wird (sola gratia). Wahr ist, dass der Mensch allein durch die Heilige Schrift Erkenntnis von der Wahrheit Gottes erhält (sola scriptura). Was ist da jetzt wahr? Die Haltung des ja durchaus kirchenreformwilligen Karl V. ermöglicht uns eine in der Gegenwart kulturübergreifende Fragestellung, die eine idealtypische geschichtsdidaktische Frage im Sinne Klaus Bergmanns ist: Darf Einer sich gegen eine 1000jährige Tradition stellen? Alleine von dieser Frage her könnte die Reformationsgeschichte zur Dialogvorbereitung thematisiert werden. Luther eröffnet mit seinem beharrlichen Insistieren auf der Relevanz seines Gewissens und seiner Eigenverantwortlichkeit in Glaubensfragen eine Debatte, die unter dem Aspekt (religiöser) `Individualismus`  vs. Gemeinschaft/Tradition thematisiert werden kann. In Europa kann sich aufgrund der politischen Rahmenbedingungen im Alten Reich des 16. Jahrhunderts die individualistische Komponente durchsetzen, die im weiteren Verlauf des historischen Prozesses das bürgerliche Individuum erscheinen lässt.

Gleichzeitig gab es im Alten Reich bereits seit dem Mittelalter eine intensive Auseinandersetzung mit dem Islam, die ein spezifischen `Wissen` über `den Islam` erzeugte.  Im 12. Jahrhundert herrschte, so der Arabist W. Montgomery Watts in seinem Buch „Der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter“, in Europa die Vorstellung vor, etwa zwei Drittel der Erde seien muslimisch. Es entwickelte sich, so Watts, eine Haltung gegenüber dem Islam, der Ähnlichkeiten mit einer unterprivilegierten Schicht in einem Staat aufweist. Um sich gegen die `privilegierte Gruppe` behaupten zu können, wandte sich die `unterprivilegierte` Gruppe der Religion zu. In der Folge kam es zu einer „Christianisierung des Christentums“, wie es der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann  nennt. (Kaufmann, Thomas: Aspekte der Wahrnehmung der „türkischen Religion“ bei christlichen Autoren des 15. und 16. Jahrhundert. In: Klein, Dietrich; Platow, Birte (Hrsg.): Wahrnehmung des Islam zwischen Reformation und Aufklärung, München 2008, alle Zitate S. 9-25.) Die christliche Selbstvergewisserung entwickelte sich dezidiert in einer klaren Abgrenzung vom Islam, der als Gegenentwurf zum Christentum im mittelalterlichen Selbstverständnis konzipiert wurde. Eine besondere Rolle spielte hier der Theologe Petrus Venerabilis (12. Jhd.). Er veranlasste erstmalig lateinische Übersetzungen islamischer Texte wie auch des Koran mit dem Ziel, sich mit diesem argumentativ auseinander setzen zu können. In der theologischen Auseinandersetzung mit dem Islam entstand in der Folge die Vorstellung des Islam als einer häretischen Abspaltung vom Christentum bis hin zu einer heidnischen Religion. Durch die `Widerlegung` des Islam durch christliche Gelehrte des Mittelalters konnte eine christliche Überlegenheitsvorstellung bei den sich militärisch unterlegen fühlenden Westeuropäern entstehen. Kampf gegen die Muslime bedeutete im Alten Reich fortan Kampf des Lichtes gegen die Finsternis. Im Zusammenhang mit der ersten Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1529 setzte sich auch Luther intensiv mit der „türkischen Religion“ auseinander. An bekannte Denkmuster anschließend verfestigte sich, so Kaufmann,  in der Frühen Neuzeit – Zitat – „die Tendenz, die „türkische Religion“ als monolitische Einheit zu beschreiben, die ihre Mitglieder durch verbindliche doktrinale Merkmale, zeremoniale Praktiken und repressive Gehorsamsstrukturen zu einer Kult- und Kampfgemeinschaft zusammenschweißte. Man ging regelmäßig davon aus, dass die Bindungskräfte der „türkischen Religion“ über die des Christentums weit hinausgingen.“ Vor allem Luther sah daher im Islam eine ernsthafte Gefahr für das Christentum, da hier eine papistisch bekannte Werkgerechtigkeit mit einer moralischen Ernsthaftigkeit verbunden wurde, der er einen hohen Attraktionswert auch für Christen zugestand. Konversionen zum Islam schienen dies zu belegen. Luthers sola-Theologie und die „türkische“ Zeremonial- und Gesetzesreligion, als die man den Islam deutete, gerieten in einen fundamentalen Gegensatz zueinander. Im Alten Reich gab es über keine Kultur mehr `Wissen`, als über die „türkische Religion“, wobei hier ein christlicher Denkrahmen vorherrschte. Dieses Wissen war, so Kaufmann – Zitat -, „ein Faktor der Religions-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des `christlichen Europa`; seine Bedeutung geht deutlich über die hinaus, die etwa dem `Wissen` über die jüdische Religion oder irgendeinen anderen Bereich der Kultur zukam“.

Die Reformation hatte Folgen: Nicht nur für Europa, sondern in ihren Auswirkungen auch auf die gesamte Welt. Hier haben wir es nicht mit Kohärenzen zu tun, sondern mit Effekten, günstigen, wie aber auch unerwarteten Nebenwirkungen: So markiert der Historiker Martin Kaufhold als Konsequenz der Reformation neben einem Individualisierungsschub auch einen herben Ambiguitätsverlust in Europa: Mit Luthers Unbeirrbarkeit begann eine „Zeit der Eindeutigkeit“ (Kaufhold, Marin (2013): Europas Werte. Wie wir zu unseren Vorstellungen von richtig und falsch kamen, Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag , S. 147), in der es zu Bekenntniszwängen kam, die es in dieser Weise in der mittelalterlichen Welt nicht gegeben hatte. Fortan musste man seine Konfessionszugehörigkeit bekennen, die dann weit reichende persönliche Folgen haben konnte. Auch musste die Ernsthaftigkeit der konfessionellen Überzeugung bewiesen werden, was sich in einer immens hohen Zahl an Toten im Zuge konfessioneller Auseinandersetzungen im Verlauf der Zeit nieder schlug. Andererseits führten die Glaubenskriege auch dazu, nach tragfähigen Lösungen zu suchen: Es kam zu vertragsrechtlichen Friedensschlüssen, einem ersten Schritt hin zu der für Europa so wichtigen Trennung von Staat und Religion aber auch in Richtung einer funktional differenzierten Gesellschaft.

Der afghanisch-amerikanische Historiker Tamim Ansary beschreibt die Reformation als einen „Schlüssel für den Aufstieg Europas“ (Ansary, Tamim (2009): Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht, Frankfurt/New York: Campus-Verlag, S. 213). Eine sich herausbildende protestantische Ethik, um mit Max Weber zu sprechen, konnte mit merkantilistischen Wirtschaftsformen verbunden werden. Zusammen mit der bereits hoch entwickelten Seefahrt ermöglichte der Entdecker- und Rohstoffdrang der Europäer diesen, neue Welten zu erschließen und schließlich auch zu dominieren. Es kam zur Kolonialisierung auch der islamischen Welt. Im 16. Jahrhundert entwickelten sich vor allem Handelsbeziehungen zwischen christlicher und muslimischer Welt, die dort noch relativ wenig Eindruck hinterließen, später jedoch zu einem Zerfall der innerislamischen Wirtschaft beitrugen. Es kamen aber auch Wirtschafts- und Technologierberater z.B. nach Persien mit dem Ziel, Waffentechnik zu verkaufen und Militärberater zu implementieren. Es beginnt eine Geschichte europäischer Hegemonie über die islamische Welt, die, so Ansary, im kollektiven Gedächtnis der Muslime bis heute als Kränkung wirkt und die seit dem 19. Jhd. zu einer Islamisierung des Islam geführt hat. Dieses Wissen gehört in die sedimentierte Geschichte muslimischer Menschen überall auf der Welt. Auch diese Geschichte muss als elaborierte Geschichte im Geschichtsunterricht dem cogito muslimischer Menschen zugänglich gemacht werden, damit auch sie über die historische Rahmung ihres Handelns sprechen können. Was wir nun sehen können ist, dass Luther in unser aller Handeln auf die eine oder andere Weise abstandslos gegenwärtig ist.

Die Christianisierung des Christentums im Mittelalter und die Islamisierung des Islam im 19. Jahrhundert können über elaborierte Geschichte relational und dialogisch aufeinander bezogen und in ihren Konsequenzen für unser Handeln und Denken heute thematisiert und reflektiert werden. Das Historisieren ist also der Sonderfall in didaktischer Absicht. Indem wir mit unseren immer schon verschränkten Geschichten zueinander in Beziehung treten, werden wir vertraut miteinander. Die dann möglich werdenden Dialoge über unsere Geschichten, die ja immer unsere Werthorizonte enthalten, mögen geeignet sein, danach zu fragen, was in der nun gemeinsam erlebten Gesellschaft aus den jeweiligen historischen Sedimenten erhalten bleiben soll und was sich ändern muss, um eine gemeinsame Zukunft jenseits hegemonialer Ansprüche möglich zu machen. Wenn wir auf diese Weise stets offen bleiben für neue Begegnungen, halten wir unsere Identität in Bewegung und nur über diese Offenheit der Identität ist überhaupt eine gemeinsame Zukunft unterschiedlicher Menschen und immer wieder neuer Menschen möglich.

Inklusive Geschichtsdidaktik: Gleichheit bei den Fähigkeiten – Pluralität bei den Tätigkeiten

Grundlegend für meinen inklusiven Ansatz innerhalb der Geschichtsdidaktik ist die Ambivalenz des menschlichen Daseins: Der Mensch ist sowohl ganz Natur (er altert), wie auch ganz Kultur (z.B. Werteorientierung) – und das stets beides gleichzeitig.

Damit wird der Mensch auf zwei Ebenen beschreibbar: Auf einer Ebene erster Ordnung gehört der Mensch zur Natur. Hier ist er eine Spezies unter anderen und in dieser Beziehung sind alle Menschen gleich. Gleichzeitig gilt auf einer Ebene zweiter Ordnung aber auch, dass es viele menschliche Naturen gibt: Jeder Mensch ist einzigartig und Menschsein äußert sich als Vielfalt. Für die Kultur gilt das Gleiche: Auf einer Ebene erster Ordnung sind alle Menschen Kulturwesen und wir haben die Menschrechtsnorm aufgestellt, die eine kulturelle Leistung darstellt, dass alle Menschen gleich sind. Gleichzeitig gilt aber auch, dass es viele Kulturen gibt und dass sich Kulturen voneinander unterscheiden lassen. Hier zeigt sich, dass es wichtig ist, die Ebene zu beachten, wenn man von Gleichheit und von Viefalt spricht.

Aktuell versuchen wir, den Gleichheitsgrundsatz auf der Ebene zweiter Ordnung umzusetzen, genau auf der Ebene, auf der sich die Menschen unterscheiden. Wenn alle Menschen, unabhängig von geistig-kommunikativer und historisch-kultureller Andersheit im Geschichtsunterricht z.B. in Bezug auf ihr Geschichtsbewusstsein geschult werden sollen, wie derzeit postuliert, geraten Lehrerinnen und Lehrer an ihre Grenzen. Es gibt Kinder, die scheitern an den normativen Hürden, die die Schulung des Geschichtsbewusstseins legt. Und es gibt Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer nicht-deutschen kulturellen Identität permanent erleben, dass sie historisch nicht dazu gehören. Wer auf dieser Ebene das Gleichheitspostulat umzusetzen versucht, steht nicht nur in der Gefahr, einer „Gleichmacherei“ Vorschub zu leisten. (Geyer, Christian: Inklusionsdebatte. Eine unglaubliche Gleichmacherei. In: Frankfurter Allgemeine. Feuilleton, aktualisiert am 21. 7. 2014, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/inklusionsdebatte-unglaubliche-gleichmacherei-13057236.html, 22. 10. 2018.) Er steht auch in der Gefahr, einige Lernende zu diskriminieren.

Hilfreich ist an dieser Stelle die Unterscheidung der Philosophin Martha C. Nussbaum, die das Gleichheitspostulat an einen Schwellenwert bindet, den es für jeden Menschen zu überwinden gilt. Auf der Ebene der Tätigkeiten, wie dieser Schwellenwert überschritten werden kann, mahnt sie hingegen Pluralität an. (Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2010).

Ich schlage vor, das Gleichheitspostulat auf die Ebene erster Ordnung zu beziehen, auf der alle Menschen von Natur und Kultur aus gleich sind. Hier definiere ich den Schwellenwert „Zukunft erwarten“ als konstitutiv für das historische Lernen. Sich als Wesen im Zeitenlauf zu erkennen und in diesem selbstwirksam handlungsfähig zu sein, kann als grundlegend für das Menschsein definiert werden. Historische Bildung für alle bedeutet dann, Gleichheit in Bezug auf die Fähigkeit herzustellen, Zukunft erwarten zu können. Daraus erwächst kulturelle Teilhabe in der Hinsicht, dass jeder Mensch, unabhängig von seinen geistig-kommunikativen Fähigkeiten und historisch-kulturellen Hintergründen Wandel als zum Menschsein dazu gehörend erleben, wahrnehmen, anerkennen und mit gestalten kann. Wenn hier der vorgeschlagene erweiterte Geschichtsbegriff zugrunde gelegt wird, kann auch mit Blick auf Menschen mit Komplexer Behinderung von historischem Lernen gesprochen werden, auch wenn niemals elaborierte historische Sachverhalte thematisiert werden. Es geht dann auch nicht mehr um die Schulung eines Geschichtsbewusstseins, sondern um die Erweiterung des inneren Zeitbewusstseins bei jedem Menschen: Mehr, als ich bisher dachte, ist möglich…

Historische Bildung in Bezug auf die Ebene zweiter Ordnung bedeutet, die Vielfalt der Menschen sowohl in individueller wie kultureller Hinsicht zu respektieren und jedem Menschen im Rahmen seiner Möglichkeiten erweiterte Zukunftserwartungen als soziales Wesen zu ermöglichen. Pluralität bei den Tätigkeiten bedeutet, der jeweiligen Individualität Rechnung zu tragen. Das heißt, dass in Bezug auf das Ziel der Erweiterung des Zukunftshorizonts für jeden Schüler und jede Schülerin die Inhalte, Medien und Methoden entsprechend angepasst werden müssen. Die Auseinandersetzung mit Geschichte als elaborierter Geschichte ist dann eine – aber nicht die einzige –  Möglichkeit, den Zukunftshorizont von Menschen zu erweitern.